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Sechs Wochen barfuß

Selbstverständlich stimmt die Überschrift nicht, ich bin nicht wirklich sechs Wochen ununterbrochen barfuß gelaufen, aber gefühlt habe ich mich so.

Alles fing damit an, daß ich mal auf einem nicht ganz so großen Schiff segeln wollte, ohne deshalb klaustrophobische Anfälle zu riskieren. 1994 bin ich zur Tall Ships Race rechtzeitig in Weymouth gewesen und habe mir vor Ort mein Lieblingsschiff ausgesucht. Zwar konnte ich nur von Spanien bis Portugal bleiben, aber zum Süchtigwerden hat das allemal gereicht. So habe ich meinen nicht allzu üppigen Etat eisern zusammengehalten und bin schnellstmöglich (nach 10 Monaten) auf mein Traumschiff zurückgekehrt. Ich habe es nicht bereut, aber fangen wir von vorne an.

Wie Friedrich zum Auge geriet

Friedrich wurde 1911 bei Lühring in Brake an der Weser gebaut. Ein kleiner Segelfrachter für den Nord- und Ostseehandel, rund 40 m lang, der Rumpf aus Eisen. Sein Auftraggeber und erster Eigentümer war ein Rostocker, aber nach ihm kamen noch viele andere. Friedrich betrieb Handel und Fischfang in Atlantik und Ostsee, wurde öfter umbenannt und umgebaut. Erst spät bekam er einen Hilfsmotor, nach und nach wurde immer mehr Takelage gekürzt. Eines Tages brach an Bord ein Feuer aus. Friedrich - mittlerweile unter schwedischer Flagge und dem Namen "Merry" - wurde ein Kandidat für die Abwrackwerft.

Viel mehr als ein Schrotthaufen war er auch nicht, als sich tatsächlich zum größten Erstaunen der Eigentümer noch Interessenten fanden. Friedrichs Eisenrumpf hatte aber fast 60 Jahre Dienstzeit erstaunlich gut überstanden und ein paar Segelfans trauten der scheinbaren Schiffsleiche noch genug Lebensgeister zu, um sie zu kaufen und mit eigenen Händen wieder aufzubauen.

Von der heutigen Stammcrew hört man, ihr Skipper und Mit-Wiederaufbauer des Schiffs wäre "awful optimistic", ein grauenvoller Optimist. Wenn das anders wäre, würde es ein Schmuckstück namens "Eye of the Wind" heute wohl kaum geben. Drei Jahre und 8 Monate, erst in Schweden, dann in England, waren nötig, um das Wrack zur von Edelholz und Messing nur so glänzenden "Eye" zu machen. 1976 stach sie erstmals in See, aber auf kleine Brötchen hatte keiner mehr Lust. Die abenteuerlichen Umstände des Wiederaufbaus hatten so ein Maß an Tatkraft erfordert, daß sich jetzt keiner mehr bremsen wollte. So verließ man die englische Kleinstadt Faversham sozusagen zur 2. Jungfernfahrt gleich in Richtung Australien. Das Ziel war nicht willkürlich gewählt, schließlich sind und waren Crew und Eigentümer zum guten Teil Australier. Es weht im Hafen zwar eine britische Flagge an der Gaffel, ich persönlich halte das aber für Etikettenschwindel. Dieses Schiff ist australisch und wer es nicht glaubt, der gehe an Bord - dazu aber später. Auch weiterhin fühlten sich die Eigentümer des Schiffes nicht für Linienverkehr und Wochenendausflüge zuständig. Drei Mal wurde die Erde in den letzten 20 Jahren umrundet, gelegentlich via Kap Hoorn. Jede Menge Zeit verbrachte man in Australien, aber gottseidank bleibt doch das andere Standbein und Büro in Großbritannien, so daß unsereiner auch mal an Bord kommt ohne noch mehr aufzufallen als ohnehin schon. Zuerst wurde die "Eye" so geriggt, wie man sich heutzutage eine Brigantine vorstellt. Kommt man jedoch an Bord, wird man belehrt, daß diese Bezeichnung nicht ganz stimmt. Eigentlich würde man einen Zweimaster vorn mit Rahsegeln, am Großtopp ohne, als "hermaphrodite brigantine" bezeichnen. Eine wahre Brigantine hätte auch Rahsegel am Großmast, allerdings auch ein Groß-Gaffelsegel, das deutlich größer wäre als das Groß-Rahsegel. Man habe die Bezeichnung der "hermaphrodite brigantine" aber aus praktischen Gründen gekürzt, da es ohnehin nur noch eine einzige "echte" Brigantine gäbe: die "Eye of the Wind".

Eye of the Wind 1994Aber auch die hat nicht gleich nach den Umbau so angefangen und wurde im Laufe der Zeit verschiedenen kleineren und größeren Veränderungen unterworfen. So hat man nicht nur am Großmast später die drei Rahen angebracht, sondern auch den weißen Rumpf schwarz gestrichen und die weißen Segel gegen braune getauscht. Ein Stagsegel und zwei Klüver haben sich als überflüssig erwiesen und dran glauben müssen. Ebenso die üppige Ausstattung an Leesegeln, von denen nur noch die der Vormarsrahen übriggeblieben sind. Bezeichnenderweise sind diese auch rund 15 Jahre nach Einführung der braunen Segel weiß, wahrscheinlich hat sich die Erstausstattung noch nicht abgenutzt.

Betritt man das Schiff oder sieht es von dicht, so findet man jede Menge hübscher Details: Leuchter aus Messing, Papageien aus Balsaholz. Dieses Schiff atmet Privatheit, man verbringt hier nicht einfach seine Dienstzeit, man wohnt hier. Deshalb sind die Wände holzgetäfelt und die Sitze mit Leder bezogen. Alles, was glänzen kann, glänzt auch. Sollte irgendwer sich mal derart unbeliebt machen, daß der Skipper beschließt ihn zum Wahnsinn zu treiben, so muß er ihm nur allein die Messigputzung übertragen. Es würde mit Sicherheit wirken.

Die "Eye" ist kein Renner. Warum sollte sie auch. Der Vorteil der Frachter gegenüber den schmalen Yachten ist ein anderer: Es gibt Massen von Stauraum und genug Platz zum Leben. Selbstverständlich ist auch hier wohl kaum jemals einer an übermäßiger persönlicher Freiheit zugrunde gegangen - 40 m Länge über alles sind für bis zu 30 Leute ganz sicher kein Luxus. Wer jedoch an ein Schiff gleicher Größe wie die "Johann Smid" gewöhnt ist, kommt sich angesichts der Innenräume der "Eye" vor wie im Tanzsaal. Es gibt nicht nur die Messe, sondern auch unter Deck den sogenannten Salon, in dem man Briefe schreiben und Karten spielen kann.

Die Schätze des Schiffes schlummern aber unter unseren Füßen, unter Bänken und Kojen und natürlich im Vorratsraum - die Fressalien. Ich habe wirklich eine ganze Weile gegrübelt, ob es etwas gibt, das es nicht gibt. Zwar bin ich fündig geworden (mit Käse sieht es dünn aus), aber das nur, weil ich es wirklich mit Gewalt wissen wollte. Normalerweise vermißt man gar nichts: Es gibt frischen Salat noch nach drei Wochen ohne Landsicht und zum Nachtisch italienisches Eis. Zwei Köchinnen teilen sich abwechselnd den Kampf mit Töpfen und Seegang: eine Woche Kombüse, eine Woche Deckswache. Das hält sie bei genügend Laune, um auch mal eine Geburtstagstorte zu backen, Pinacoladas zu mixen und Steaks nach persönlichen Wünschen zu braten. Pizza in drei verschiedenen Sorten zur Auswahl und Salat dazu wird in dankbarer Routine restlos verputzt. So ganz haben wir nie begriffen, wie man das alles in der kleinen Kombüse hinkriegt.

Außerdem im Bauch des Schiffes verborgen liegen die Wassertanks, die 12 t fassen. Das reichte bei den 17 Leuten, die wir diesmal waren, für 6 Wochen und darüber hinaus nicht nur als Trinkwasser, sondern auch, um täglich zu duschen. Einen bissigen Gedanken an Schiffe, die zwar tausende Tonnen Ballastwasser spazierenfahren, aber die Duschzeiten verteilen wie Gold, konnte ich mir nicht verkneifen.

Und noch etwas zeichnet die "Eye" aus vor den Schiffen, auf denen ich bisher gesegelt bin: die Batterie. Morgens um 7 wird der Generator angeworfen, füttert die Batterien, wird dann wieder abgestellt und hat nachts sowieso Sendepause. Und wenn dann nicht gerade der Motor läuft, breitet sich eine himmlische Stille an Deck aus, die höchstens durch Wind und Wasser und vielleicht leise Musik aus der Kombüse gestört wird. Wohlbemerkt herrscht Ruhe an Deck: in den Kabinen kann das ganz anders sein. Jede Koje hat nämlich ihren eigenen kleinen Ventilator, der gerade in den Nächten unter dem Äquator sehr angenehm sein kann. Das Problem ist nur, daß diese Ventilatoren ziemlich gefährlich leben. Im Schlaf werden sie versehentlich getreten, ihr Leben lang sind sie 100% Luftfeuchte ausgesetzt. John, der Maschinist, versucht sein bestes, um sie einigermaßen in Gang zu halten, trotzdem machen sie manchmal den Eindruck einer Ansammlung von Versehrten. Und vor allem: Wenn sie nicht völlig in Ordnung sind, können sie einen Höllenlärm entfalten. Wenn man wie viele von uns eine der üblichen 2-Mann-Kabinen allein belegt, kann man sich mit sich selber ganz gut einigen. Nächtigt man aber zu zweit, kann man sich freuen, wenn man infolge verschiedener Wachen wenigstens ohne Radau einschläft.


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