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Kalte Schauer


Gloucester: Wie gemeldet, sollte "Eye of the Wind" verkauft werden. Viele ihrer Freunde hatten schnell noch einen Abschiedstörn gebucht und sich verabschiedet, als plötzlich die schlechte Nachricht hereinbrach: Die Käufer sind abgesprungen und haben sich für die Malcolm Miller entschieden (und auch diesen Kauf in den letzten Monaten nicht zu Ende gebracht). Und als ob das nicht gereicht hätte, kam dann noch der Brief, den die Betreiber alter Schiffe mehr fürchten als Sturm und Korallenriffe: Die Gesetzeslage habe sich geändert. Man müsse jetzt innerhalb weniger Monate sehr viel Geld und noch mehr Arbeit investieren, um das 89jährige Schiff auf den Standard des Jahres 2000 zu bringen. Anderenfalls erhielte man auch für dieses Schmuckstück in ein paar Wochen die Klassifizierung als Schrotthaufen. Man mag gar nicht denken an die vielen Schiffe, die diese Bezeichnung tatsächlich verdienen und trotzdem dank windiger Methoden unangefochten die Weltmeere befahren.

Aber auch wenn die Aktion wörtlich als "mehrfache Höllenfahrt" beschrieben wurde: dank eines durchgeschufteten Winters und vielen Helfern haben alle Papiere am Ende ihre Stempel bekommen und im März geht die "Eye" wieder in Fahrt. Nachdem sie im Laufe ihres Lebens schon Frachter, Heringsfischer, Segelschulschiff und vor 30 Jahren auch fast schon einmal Bordell gewesen ist, gehört sie nun zur neuen Klasse der Megayachten. Als solche wird sie gechartert mit der Sail 2000 im Sommer nach Amerika segeln und dann im Herbst wieder wie üblich von England über Teneriffa in die Karibik. Und vielleicht findet sich inzwischen ein Käufer, der solchen Nervenkrieg aushalten kann - oder ausflaggt in eine Bananenrepublik.

(2000)

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